Eine Vergabestelle schreibt Bauleistungen in einem Offenen Verfahren aus. Das Angebot des erstbietenden Antragstellers (ASt) liegt 12% über dem Wert der Kostenberechnung und 18,5% über dem LV-Schätzpreis. Nunmehr hebt die ausschreibende Stelle das Verfahren auf mit der Begründung, dass ein anderer schwerwiegender Grund gemäß § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB vorliege, da der Schätzpreis deutlich überschritten sei.
Dieses Vorgehen rügt der Antragsteller und wendet sich form- und fristgerecht an die Vergabekammer, nachdem seine Rüge abgewiesen wurde. In der Rüge führte er u. a. an, dass die Kostenschätzung nicht vertretbar sei. Insofern sei er durch die aus seiner Sicht ungerechtfertigten Verfahrensaufhebung in seinen Rechten verletzt. Während des Verfahrens leitet die VSt eine neue Ausschreibung mit abgeminderter Qualität bzw. geänderten Leistungen ein und erteilt dort an eine Drittfirma den Zuschlag.
Die Vergabekammer Nordbayern (Beschluss vom 05.03.2016, 21.VK-3194-42/15) entschied in der Sache, dass die Aufhebung zwar rechtswirksam, die Aufhebung aber selbst rechtswidrig erfolgte. Somit ist der Antragsteller in seinen Bieterrechten verletzt. Bezüglich des Verhältnisses Schätzpreis / Angebotspreis führt die Kammer aus: „Bei der Frage, ob das Vergabeverfahren wegen einer beträchtlichen Abweichung des Angebots von einer vertretbaren Schätzung aufgehoben werden darf, kann auf die Grundsätze, ob ein den Ausschluss eines Angebotes rechtfertigendes Missverhältnis zwischen Leistung und Angebot vorliegt, zurückgegriffen werden. Erst ab einem Abstand von 20% liegt ein Missverhältnis zwischen dem Wert der Leistung bzw. der Kostenschätzung und dem Angebot nahe (OLG München, Urteil v. 12.12.2013 – 1 U 498/13). Bei einer Bezugnahme auf diesen Abstand reicht im vorliegenden Fall die prozentuale Differenz zwischen dem Angebot der ASt weder zur Kostenberechnung der VSt vom April 2015 von ca. 12% noch zum Schätzpreis des Leistungsverzeichnisses von rd. 18,5% für die Feststellung eines unangemessenen Preises nicht aus. Für die Vergabekammer sind auch keine weiteren durchgreifenden Gründe ersichtlich, die die Einstufung als ganz beträchtlichen Abstand zwischen Kostenschätzung und Angebotspreis der ASt rechtfertigen könnte.“
Fazit: Diese Entscheidung stellt klar, ab wann von einem offenen Missverhältnis zwischen Wert der Leistung und Angebotspreis ausgegangen werden darf. Insofern muss der Angebotspreis (mindestens) 20% von der Auftragswertschätzung abweichen. Ein anderes Vorgehen muss die Vergabestelle in ihrer Vergabeakte ausführlich begründen und dokumentieren. Letztlich muss immer geprüft werden, ob die ausschreibende Stelle den anderen schwerwiegenden Grund verschuldet hat, z. B. durch nachlässige Vergabeunterlagen. Ist dies der Fall, stehen dem rügenden Bieter möglicherweise Schadenersatzansprüche zu. Schadensersatzfrei ist eine Aufhebung für den Auftraggeber nur dann, wenn er den Aufhebungsgrund nicht zu verantworten hat. Insofern trifft ihn die Beweispflicht.
Robby Semmling, der Autor des Blogs, ist Rechtsanwalt und seit mehreren Jahren spezialisiert auf Themen rund um Vergabeverfahren. An dieser Stelle bloggt er regelmäßig zu Problemstellungen aus seinem Arbeitsalltag.