Umfang der Prüfung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots

In ihrem Urteil vom 15. September 2022 musste sich die vierte Kammer des EuGH mit der Behandlung von ungewöhnlich niedrigen Angeboten befassen. Auch wenn der Gegenstand des Urteils ein bulgarisches Vergabeverfahren war, ist die Entscheidung für deutsche Auftraggeber nicht uninteressant. Denn zwar enthalten deutsche Vergabegesetze Regelungen zu ungewöhnlich niedrigen Angeboten (vgl. § 60 Abs. 1 VgV, § 16d Abs. 1 VOB/A EU, § 44 UVgO). Wann ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist und in welchem Umfang die Prüfung zu erfolgen hat, wird dort aber nicht definiert. Die Entscheidung des EuGH ist für die deutsche Rechtsprechung nicht unbedingt bahnbrechend, beschäftigt sich aber vertieft mit der Frage unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang der öffentliche Auftraggeber zur Überprüfung ungewöhnlich niedriger Angebote verpflichtet ist.

Gegenstand der Entscheidung des EuGH war ein Vergabeverfahren, das in den Anwendungsbereich der RL 2009/81/EG (Aufträge im Bereich Verteidigung und Sicherheit) fiel und die Vergabe eines Auftrags zur Beschaffung eines Systems zur Ausstellung von Ausweisdokumenten betraf. Dabei stellte das Gericht klar, dass die in der Entscheidung ausgeführten Grundsätze auch auf die Regelungen der Vergaberechtlinie (RL 2014/24) übertragbar sind.

Der Sachverhalt kurz zusammengefasst: In dem gegenständlichen Vergabeverfahren wurden nur zwei Angebote abgegeben. Der Bieter, dem der Zuschlag nicht erteilt worden war, reichte einen Rechtsbehelf bei der zuständigen Behörde ein – ohne Erfolg. Das für den Rechtsstreit zuständige Gericht stellte dem EuGH unter anderem die Frage, ob ein öffentlicher Auftraggeber verpflichtet sei, zu prüfen, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliege, wenn das zur Feststellung eines solchen Verdachts in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Kriterium nicht anwendbar sei. Nach bulgarischem Recht muss eine Prüfung ungewöhnlicher niedriger Preise lediglich dann erfolgen, wenn der Angebotspreis des erstplatzierten Angebots mehr als 20 % günstiger als der Mittelwert der übrigen Angebote ist. Diese Norm sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da zur Berechnung des Mittelwerts sinngemäß mindestens 3 Angebote erforderlich sind.

In seiner Entscheidung macht der EuGH auf den in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsatz bezüglich des „ungewöhnlich niedrigen Angebots“ aufmerksam, und zwar:

  • Es ist Sache der öffentlichen Auftraggeber, wie die Ungewöhnlichkeitsschwelle für ein „niedriges“ Angebot zu errechnen ist oder einen Wert dafür festzusetzen, unter der Voraussetzung, dass eine objektive und nicht diskriminierende Methode angewandt wird.
  • Dem öffentlichen Auftraggeber obliegt es, die zweifelhaften Angebote zu ermitteln.
  • Ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, ist im Verhältnis zu der betreffenden Leistung zu beurteilen. Dabei sind sämtliche im Hinblick auf diese Leistung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

Daraus leitet der EuGH die Pflicht des öffentlichen Auftraggebers ab, bei Zweifel an der Verlässlichkeit eines Angebots, dieses Angebot zu identifizieren und dem betroffenen Bieter zu ermöglichen, seine Seriosität zu beweisen, indem er von ihm Aufklärung verlangt. Er hat dann das Angebot entsprechend den eingereichten Erklärungen zu beurteilen und über dessen Verlässlichkeit zu entscheiden. Dabei sind die konkurrierenden Angebote nicht das einzige Vergleichskriterium. Vielmehr sind anhand aller Merkmale des Ausschreibungsgegenstands die Angebote zu identifizieren, die zweifelhaft erscheinen. Auch die Nichtanwendbarkeit des im nationalen Recht vorgesehenen Kriteriums zur Ermittlung ungewöhnlich niedriger Angebote, entbindet öffentliche Auftraggeber nicht von ihrer Pflicht, zweifelhafte Angebote zu ermitteln und bei Vorliegen solcher Anhaltspunkte einer Überprüfung zu unterziehen.

Ein Blick in die deutsche Rechtsprechung: danach liegt ein ungewöhnlich niedriges Angebot vor, wenn ein Missverhältnis zwischen Preis und Leistung besteht. Liegt das Angebot preislich deutlich unter den Angeboten anderer Bieter oder der Auftragswertschätzung, besteht Anlass zur Prüfung. Als Faustregel gilt, dass bei einer Abweichung von mehr als 20 % („Aufgreifschwelle“) des günstigsten Angebots ein Missverständnis besteht (z. B. OLG München, Urteil vom 07. März 2013, Verg. 36/12). Wird die Aufgreifschwelle nicht erreicht, kann eine Preisprüfung trotzdem vorgenommen werden, wenn das Angebot aus anderen Gründen konkreten Anlass zur Preisprüfung gibt. Vereinzelt erachtet die Rechtsprechung eine Spanne von 10-20 % für ausreichend (z. B. OLG Karlsruhe, Urteil vom 27. Juli 2009, 15 Verg. 3/09).

Auch hier gilt Folgendes: Ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, bedarf der Prüfung im Einzelfall. Wird das Angebot als ungewöhnlich niedrig eingestuft, kann es nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden. Vielmehr muss der Auftraggeber vom Bieter zwingend Aufklärung über den Preis verlangen. Dies gilt sowohl für die deutsche als auch für die EU-Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 10. September 2020, Rs. C-367/19) sogar für ein Angebot, welches als Preis „Null Euro“ vorsieht. Bereits die Möglichkeit der Preisaufklärung steht einem automatischen Ausschluss entgegen.

In einem nächsten Schritt prüft der Auftraggeber, ob aus Versehen oder auch absichtlich eine falsche Preisangabe oder Mischkalkulation erfolgt ist. Ergibt die Prüfung, dass kein Unterangebot vorliegt, muss der Bieter bei der weiteren Angebotsbewertung berücksichtigt werden. Wenn der Bieter die Richtigkeit und Schlüssigkeit seiner Kalkulation bestätigen kann, darf auch ein günstiges oder „Null Euro“ Angebot bezuschlagt werden. Vorausgesetzt natürlich, dass es auch keine begründeten Zweifel an der Eignung oder dem Angebot im Allgemeinen gibt, die weitere Prüfungen notwendig machen.

Tipps für die Vergabepraxis:

Im Fall des Verdachts, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, muss die Prüfung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte der Ausschreibung und Vergabeunterlagen erfolgen. Der EuGH betont in seiner Entscheidung, dass es dabei nicht ausschließlich auf den Vergleich des Preisabstandes zu den anderen eingereichten Angeboten ankommt. Dies ist besonders bedeutend vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung des Auftraggebers darüber, ein Angebot nicht als ungewöhnlich niedrig einzustufen und keiner Prüfung zu unterziehen, im Nachprüfungsverfahren gerichtlich überprüft werden kann.

Für alle Bieter gilt, dass sie sich vor Angebotsabgabe ausreichend Gedanken über den Angebotspreis machen müssen. Kampfangebote können zum Ausschluss führen. Zudem begrenzt der § 132 GWB die Möglichkeit der Auftragsänderung. Wenn die Leistung nicht für den angegebenen Preis erbracht werden kann, dann sind auch Schadensersatzansprüche gegen den bezuschlagten Bieter denkbar.

Dieser Beitrag wurde von Anna Lazarova (Vergabejuristin) unterstützt durch Jutta Pertenais (Vergabejuristin & Senior IT-Consultant) erstellt.